Das
Fundament zu Lynn Austins neuem Roman bildet eine Geschichte aus dem
alten Testament. Im Buch Ester kann man nachlesen, dass es im Jahr
473 v. Chr. einen Erlass des persischen Königs gab, dass alle Juden
in seinem Herrschaftsbereich am 13. Tag des Monats Adar getötet
werden dürften. Beeinflusst wurde Artaxerxes zu dieser Entscheidung
von seinem Beamten Haman, der auf diese Weise seinen Hass gegen die
Juden befriedigen wollte. Hamans Widersacher Mordechai, ebenfalls
Jude und Königin Esters Cousin, sucht einen Weg, seinen
Glaubensbrüdern in dieser Not zu helfen. Mit Esters Unterstützung
und wachsendem Einfluss auf den König gelingt es ihm, einen zweiten
Erlass zu erwirken, der besagt, dass sich die Juden wehren dürfen.
Diese
schwierige Zeit im Leben der babylonischen Juden erzählt die Autorin
anhand von Esra, einem Gelehrten, der mit seinen Brüdern und deren
Familien in Babylon lebt. Als der erste Erlass des Königs bekannt
wird, ist die Verzweiflung der Betroffenen groß. Wie sollen sie
weiterhin arbeiten und leben, als wäre nichts geschehen, um auf den
Tag zu warten, an dem sie umgebracht werden sollen? Der zweite Erlass
bringt die Erleichterung, denn auch wenn sich schwere Kämpfe nicht
vermeiden lassen, bleibt durch diese unverhoffte Wendung doch ein
Großteil der Juden am Leben. Aber fast jede Familie hat nach dem
schicksalsträchtigen Tag im Adar Verluste zu beklagen. Auch Esra
betrauert den Tod seines Bruders. Ehe er sich versieht, wird er mit
der Aufgabe betraut, das jüdische Volk künftig anzuleiten, nach den
strengen Regeln der Thora zu leben. Angesichts dieser großen
Verantwortung wagt er sich einige Jahre später vor den König, um
diesen zu bitten, den babylonischen Juden die Rückkehr ins
geheiligte Land ihrer Vorväter zu erlauben. Als sie die Erlaubnis
und großzügige Unterstützung des Königs Artaxerxes erhalten,
scheint das Glück vollkommen, aber es gibt neue Herausforderungen
und unbekannte Hindernisse, nicht nur auf der langen Reise nach
Jerusalem, sondern auch, als sie am Ziel angelangt sind, denn nun ist
es Esras Aufgabe, die Verhältnisse im gelobten Land zu ordnen und
den Glauben zu stärken. Dabei gerät er in schwere
Gewissenskonflikte.
Unterstützung
und so manchen lebensklugen Rat findet er bei seiner geliebten Frau
Deborah, die so ganz anders ist als die meisten Ehefrauen, denn sie
sagt offen, was sie denkt. Es ist für Esra nicht immer angenehm oder
bequem, aus ihrem Mund die Wahrheit zu hören, aber Deborahs Worte
bieten ihm oft eine wichtige Entscheidungshilfe.
Es
gibt zwei weitere Erzählstränge, die erst später mit Esras
Geschichte zusammenlaufen. Hier geht es einmal um Ruben, den Sohn
eines jüdischen Schmieds. Er ist erst zwölf, als sein Vater an
diesem tragischen 13. Tag des Adar getötet wird. Als Ruben auch noch
sein Erbe, die geliebte Schmiede seines Vaters, verliert, kommt er
vom Glauben ab und gerät auf die schiefe Bahn.
Und
dann ist da noch Amina, eine junge Edomiterin. Sie hat einen
verkrüppelten Fuß, und ihre Familie verachtet sie deswegen. Schelte
und Schläge prägen ihre unglückliche Kindheit. Sie verliert am 13.
Adar ihre ganze Familie, als die Edomiter gesammelt gegen die Juden
in den Kampf ziehen. Obwohl sie zu den Feinden gehört, findet die
junge Waise in einer jüdischen Familie freundliche Aufnahme. Im Lauf
der kommenden Jahre findet sie zum jüdischen Glauben, doch gerade
als sie ihr großes Glück gefunden hat, werden all ihre Hoffnungen
und Träume zerstört.
Lese
ich die entsprechenden Bibelstellen, so empfinde ich diese meist als
sehr sachlich, trocken und emotionslos. Es werden Fakten und Namen
aufgezählt, und es fällt mir schwer, mich anhand dieser kurzen
Abschnitte in die Geschichte hinein zu denken. Lynn Austin ist es
ganz hervorragend gelungen, diese vielschichtige Handlung mit Leben
zu erfüllen und mich damit zu fesseln. Sie beschreibt die einzelnen
Personen so gut und ausführlich, dass man sich in ihre Lage
hineinversetzen kann. Man bangt mit den Juden, wenn sie dem
schicksalhaften Tag im Adar entgegensehen, an dem sie ihr Todesurteil
erwartet. Die Autorin schreibt sehr einfühlsam und lässt einen an
den Gefühlen und Gedanken der Protagonisten teilhaben. Jeder geht
aufgrund seiner Wesensart anders mit den Problemen um. Es wird auch
deutlich, dass nicht alle Juden fest in ihrem Glauben waren, sondern
oft zweifelten und dass schwere Schicksalsschläge manche zur Abkehr
von ihrem Gott brachten. Selbst Esra, der Gelehrte, der die Thora
kennt wie kein anderer, ist über Zweifel nicht erhaben und muss
seine Beweggründe immer wieder hinterfragen.
Es
gäbe noch so viel zu diesem Roman zu sagen, denn viele Passagen
haben mich zum Nachdenken angeregt oder manchmal schwer ins Grübeln
gebracht. Das ist wirklich ein Buch, das ich sicher nach gegebener
Zeit erneut lesen werde, denn hier wird nicht einfach nur ein
historischer Roman erzählt, sondern man erkennt beim Lesen vieles,
was man vorher, anhand der kurzen Bibelstellen, nicht gesehen hat. Es
gibt auch, besonders im letzten Teil des Buches, einige Themen, die
ich nicht so ganz verstehe bzw. die ich nicht nachvollziehen kann und
mit denen ich mich noch ausgiebiger beschäftigen möchte, weil sie
in mir Zweifel erwecken, beispielsweise wenn es um ein „Verbot von
Mischehen“ geht, wie es in der Thora steht. Dies ist ein Begriff,
der bei mir einen schalen Beigeschmack hat und den ich bisher nur in
anderem Zusammenhang kannte, wo dieses Verbot auch von ganz anderer
Seite und aus anderen Gründen erlassen wurde. Meine Gedanken haben
oft unwillkürlich eine Brücke zur Gegenwart geschlagen, und ich
habe mich nach dem Warum gefragt, denn wenn man die Geschichte
betrachtet, war das jüdische Volk schon immer großen Anfeindungen
ausgesetzt, schon hunderte Jahre vor Christus, aber auch bis heute
kam dieses Volk kaum jemals zur Ruhe, denn immer wieder gab es
wahnsinnige Despoten, die ein ganzes Volk einfach auslöschen
wollten.
Meines
Erachtens ist dies ein Roman, der nicht nur religiöse Menschen
anspricht, sondern auch Zweiflern und Kritikern viele Denkanstöße
liefert und Lust darauf macht, mehr zu erfahren.
Es
handelt sich bei „Hüter des Erbes“ um den zweiten Teil einer
Trilogie und somit die Fortsetzung von „Fremde Heimat“. Man kann
jedes der Bücher aber auch problemlos einzeln lesen.