Mein Eindruck:
Dieses Buch hat keine eigentliche Handlung, sondern lebt einzig vom Protagonisten und seinem Monolog. Es geht um Jesus Christus, der die Nacht vor seiner Hinrichtung einsam in seiner Zelle verbringt. Amélie Nothomb hat versucht, sich in ihn hinein zu versetzen und seine Gedanken und Gefühle wiederzugeben.
Er sagt, ihm sei nichts Menschliches fremd, und in diesem Buch wird er selbst auch nur allzu menschlich dargestellt.
In gewisser Weise hat mir dieses Buch Jesus näher gebracht, der in seinem Wesen göttliche Weisheit mit menschlicher Schwäche vereint. Seine rückblickenden Betrachtungen über sein Leben und die Ereignisse, die unweigerlich zu seiner Verhaftung und Verurteilung führten, sind nicht frei von Enttäuschung und lassen auch einen gewissen Sarkasmus erkennen. Mit Verwunderung und einem Anflug von Bitterkeit nimmt er die Reaktionen der Menschen auf seine Wunder wahr.
So kurz vor seiner Hinrichtung hat er zum Teil sehr tiefgründige Gedankengänge. Die Worte, die Amelie Nothomb in den Mund legt, sind nachdenklich und philosophischer Art. Er überlegt, ob er eine Wahl gehabt hätte, aber er hadert nicht mit seinem Schicksal, das er annimmt, vor dem er sich aber auch fürchtet und dem er am liebsten entgehen würde. Allein mit sich und seinen Gedanken gibt er sehr viel Persönliches und Menschliches preis. So philosophiert er zum Beispiel über den Durst von Körper, Geist und Seele. Es sind sehr interessante Gedanken, die mich zum Grübeln bringen. Auch seine innige Liebe zu Magdalena wird thematisiert. Überhaupt genießt Jesus die Körperlichkeit, solange er noch kann. Manches ist ziemlich überspitzt dargestellt bzw. passt so gar nicht in unser gängiges Jesus-Bild. Wieder andere Sätze könnte ich mir gut vorstellen, dass er sie genau so hätte sagen können. Das Buch provoziert und stellt Glaubensfragen auf den Kopf. Amélie Nothombs Jesus ist nur allzu menschlich und hat quasi für eine Nacht die Aura des Gottessohnes in die Ecke gestellt bzw. abgelegt. Meines Erachtens kann dieses kleine und doch so inhaltsschwere Buch ungläubige und gläubige Menschen gleichermaßen ansprechen. Tief gläubige Menschen, die sich zu 100 % auf die Bibel beziehen, werden jedoch vermutlich nicht glücklich mit dem hier gezeigten Jesus- und Gottesbild. Es wühlt auf und möchte stellenweise provozieren. Ob man mit diesem Buch etwas anfangen kann, kommt wohl darauf an, welches Glaubensbild man selbst hat. Ich kann nur für mich sprechen, wenn ich sage, die Geschichten der Bibel gehen mir zum Teil nicht wirklich nahe, denn sie sind meist völlig emotionslos und entstammen einer Welt, die uns heute fremd ist. Dieses Büchlein strotzt nur so von Gefühlen und emotionalen Aussagen. Auch ist Jesus, wie ihn die Autorin darstellt, einerseits allwissend, denn er sieht vieles voraus und hat aus seiner Situation heraus auch einen Blick auf unsere heutige Zeit. Und doch ist er nur allzu sehr Mensch, mit seinen Schwächen und Ängsten, wie er nicht nur sich selbst und seine Mitmenschen kritisiert, sondern durchaus auch kritische, wenn auch liebevolle, Worte über Gott, seinen Vater, findet. Wer sich auf dieses Buch einlässt, muss also Kritik an Gott verkraften, an seiner Schöpfung, dem Menschen und auch an dem Entschluss, seinen Sohn für die Sünden der Menschheit zu opfern. Dazu sagt Jesus hier: „Wie schrecklich, im Voraus zu wissen, dass mein Leiden umsonst sein wird!“ Schaut man sich heute in der Welt um, könnte man meinen, dass diese Einschätzung sehr realistisch ist.
Mich hat dieses schmale Buch mit seinen 128 Seiten tief berührt und mir sehr viel Stoff zum Grübeln geliefert. Der französische Originaltitel ist übrigens „Soif“ (=Durst), was überaus passend ist, denn dieses menschliche Bedürfnis spielt eine große Rolle und tritt von Anfang bis zum Schluss immer wieder in Erscheinung. Man begleitet Jesus auf seinem Leidensweg bis zum bitteren Ende und darüber hinaus. Meine Sichtweise auf sein Schicksal hat sich zwar durch dieses Buch nicht grundlegend geändert, aber sie hat neue Dimensionen dazu bekommen, über die ich noch lange und oft nachdenken werde.
⭐⭐⭐⭐⭐
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