Diese kleine Geschichte spielt an der
Wallstreet. Es sind keine Zeitangaben gemacht, aber die Erzählung
wurde im Jahr 1853 veröffentlicht, und ich vermute, dass auch die
Handlung ungefähr Mitte des 19. Jahrhunderts spielt. „Bartleby,
der Schreiber“ entstammt der Feder von Herman Melville, dem
Verfasser des weltberühmten Klassikers „Moby Dick“.
Die Ereignisse sind aus der Sicht eines
älteren Notars geschildert. Der Ich-Erzähler hat seine Kanzlei an
der Wallstreet. Die Aussicht aus seinem Büro ist trist, denn man
starrt auf die Mauern der umstehenden Hochhäuser. Der Notar, der
durchgehend anonym bleibt, hat mehrere angestellte Schreiber, deren
Charakterzüge und Eigenheiten er zuerst ausführlich darlegt. Da die
Arbeit im Büro ständig zunimmt, sieht sich der Notar genötigt,
einen weiteren Schreiber bzw. Kopisten einzustellen. Auf seine
Anzeige hin meldet sich ein junger Bewerber namens Bartleby, und er
nimmt den stillen Mann auch gleich unter Vertrag. Bartleby erweist
sich in der ersten Zeit als fleißig und gewissenhaft. Aber als der
Notar ihn eines Tages bittet, eine extra Aufgabe für ihn zu
erfüllen, antwortet Bartleby: „Ich würde vorziehen, das nicht zu
tun.“ Im ersten Augenblick ist sein Chef empört, dann verstört,
denn mit einer Weigerung hat er nicht gerechnet. Allerdings erfolgte
diese so sanft und leise, dass dem Notar der Wind aus den Segeln
genommen wurde. In der folgenden Zeit werden derartige Weigerungen
Bartlebys häufiger und erfolgen immer mit den Worten: „Ich würde
vorziehen, das nicht zu tun“. Sie führen letztendlich zur völligen
Selbstaufgabe des Schreibers.
Der Notar weiß nicht, was er tun soll,
denn irgendwie hat Bartlebys Verhalten etwas Anrührendes. Wie sich
herausstellt, verlässt er die Kanzlei nicht, sondern lebt in seinem
Büro. Einerseits hat sein Chef Mitleid, und doch möchte er ihn am
liebsten loswerden, aber etwas hält ihn davon ab, den Mann auf die
Straße zu setzen. Bartleby widersteht allen Überredungskünsten,
die Kanzlei mit einer Abfindung zu verlassen. Der Inhaber sieht keine
andere Möglichkeit, als sein Büro zu verlegen. Die Folgen dieses
Umzugs sind fatal. Der Notar kann zwar Bartleby damit aus seinem
Gesichtsfeld bannen, aber nicht aus seinen Gedanken, und immer noch
fühlt er sich für den einsamen, stillen Mann verantwortlich.
Die Geschichte umfasst gerade einmal
siebzig Seiten, und doch schafft es dieses kleine Büchlein, mehr
Emotionen freizusetzen als so mancher Wälzer. Ich habe Bartlebys
Schicksal mit sehr gemischten Gefühlen verfolgt und wurde ständig
hin und her gerissen zwischen Unverständnis und Mitgefühl. Der
Ich-Erzähler bleibt anonym und gesichtslos bis zuletzt, und doch
gelingt es dem Leser, sich in den Notar hinein zu versetzen. Man kann
seine Zweifel und Befürchtungen gut verstehen. Es spricht für ihn,
dass er sich so lange um Bartleby bemüht. Man kann nur erahnen, was
in dem stillen Schreiber vorgeht. Seine ganze Erscheinung wirkt so
einsam und anrührend. Obwohl man nur wenig über ihn erfährt, hofft
man auf eine Wendung zum Guten. Erst ganz zuletzt erfährt man ein
wenig über Bartlebys Vorgeschichte, die wohl sein Leben geprägt
hat.
Die Person Bartlebys mutet einerseits
grotesk an, aber dabei ist diese Erzählung so dicht und ergreifend
geschrieben und so eindrucksvoll, dass sie einen einfach berühren
muss. Ich für meinen Teil werde Bartleby sicher so schnell nicht
vergessen.
👍👍👍👍👍
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