Segen oder Fluch? Karl Heidemann kommt
mit einer ungewöhnlichen Gabe zur Welt, er hat ein ausgeprägt
sensibles Gehör, was ihm schon zartes Vogelzwitschern,
Grillenzirpen, ja sogar den Herzschlag seiner Mitmenschen, zur Qual
werden lässt. Unverstanden von seiner Umgebung wächst er sehr
isoliert auf und verbringt die meiste Zeit in der Abgeschiedenheit
des heimischen Kellers. Als er bereits in jungen Jahren den Freitod
seiner Mutter miterlebt, der ihm im Nachhinein einen ungeahnten
inneren Frieden verschafft, beginnt Karl, sich mit dem Sterben und
dem Tod zu beschäftigen. Er kann sich geräuschlos anderen Lebewesen
nähern, und er beginnt zu töten, auf ganz unterschiedliche Weise
und aus den verschiedensten Motiven, denn wie er feststellt, kann der
Tod sowohl Strafe als auch Geschenk sein.
Der Leser begleitet den Protagonisten,
von seinem ersten Schrei bis zum letzten Atemzug, durch diesen Roman.
Karls Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen, vom Jugendlichen zum
Mann, seine ständige Suche nach Aufmerksamkeit und Liebe, zugleich
aber auch nach Frieden und Stille, wird mit ungeheurer Intensität
geschildert. Karl begeht schreckliche Taten, erscheint dabei jedoch
nie als gefühlloses Ungeheuer, denn er wird bei allem, was er tut,
von seinen Gefühlen getrieben, die er nie gelernt hat, in die
richtigen Bahnen zu lenken. Als er endlich die wahre Liebe erfährt,
ist es bereits zu spät, denn zu tief hat er sich schon in den Folgen
seiner eigenen Taten verfangen.
Zu Beginn hat mich die Handlung ein
wenig an Süskinds Parfum erinnert, denn auch Jean-Baptiste
Grenouille, dem Protagonisten dieses Klassikers, war ein besonders
ausgeprägter Sinn gegeben. War es bei Grenouille der Geruchssinn, so
ist es bei dem jungen Heidemann das Gehör. Anders als bei
Gernouille jedoch, der seinen Geruchssinn als Gabe betrachtete, ist
für Karl sein hypersensibles Gehör eher eine Last. "Still" gliedert sich in drei große Hauptteile, die mit „Glaube“,
„Liebe“ und „Hoffnung“ überschrieben sind. Das sind die drei
göttlichen Tugenden, nach denen Karl im Lauf seines Lebens
unermüdlich sucht. Auch wenn er als Kind von seinen Eltern keine
religiöse Erziehung erfahren hat, so ist er doch nicht gottlos, nur
hat er seine besondere, individuelle Interpretation von Recht und
Unrecht, von Gut und Böse. Er legt sich sein ganz eigenes Weltbild
zurecht, und für ihn ist es kein Widerspruch, dass er sowohl als
Racheengel, manchmal aber wiederum als rettender Engel handelt.
Thomas
Raab ist ein begnadeter Erzähler. Er hat hier keinen Krimi
geschrieben, sondern eher die fiktive Biographie eines
außergewöhnlichen Menschen. Die Sprache ist bildhaft, kraftvoll und
eindringlich, zugleich aber auch wunderschön poetisch. Die
Geschichte hat etwas Hypnotisches; man ist gebannt und kann nicht
mehr von ihr lassen. Man wird in ein Wechselbad der Gefühle
geworfen, zwischen fassungslosem Grauen über Karl Heidemanns Taten,
stillem Staunen über die andere, gefühlvolle Seite des
Progagonisten und genießerischem Auskosten des wunderbaren
Schreibstils.
Das klingt sehr spannend und lesenswert. Es hebt sich etwas von der Masse der zeitgenössichen Bücher ab, ich bemängle ja manchmal, dass viele Bücher nach dem gleichen Schema "gestrickt" sind.
AntwortenLöschenLG
Liebe Klusi,
AntwortenLöschenStill stand lange auf meiner Wunschliste und erst vor kurzem habe ich diesen Titel von ihr entfernt. Eine Rezension hat mich dazu verleitet, mich gegen das Buch zu entscheiden. Aber nach deinen tollen Rezension, möchte ich es am liebsten doch noch lesen. Es scheint die Geister zu scheiden. Ich überleg es mir.
Liebe Grüße
Nisnis
Hallo Nisni, ja , "Still" polarisiert stark. Bei solchen Büchern bleibt einem nichts anderes übrig, als es einfach selbst zu lesen, um sich eine Meinung zu bilden ;-) Falls du dich doch mal für das Buch entscheidest, würde mich anschließend deine Meinung interessieren.
LöschenLiebe Grüße
Susanne