Dienstag, 20. Oktober 2015

Tim lebt! - Simone & Bernhard Guido mit Kathrin Schadt

Wie uns ein Junge, den es nicht geben sollte, die Augen geöffnet hat.


Tim feiert seinen 18. Geburtstag. Das ist für jeden jungen Menschen etwas ganz Besonderes, für Tim jedoch gleich in mehrfacher Hinsicht, denn Tim hat das Down Syndrom, und er hat seine eigene Abtreibung überlebt!

Dieses berührende Buch gibt Einblick in Tims Leben. Es erzählt, wie es dazu kam, dass er den Eingriff, der ihn für immer von dieser Welt holen sollte, überlebt hat, wenn auch mit vielen körperlichen und geistigen Einschränkungen, die darauf zurückzuführen sind, dass er nach der eingeleiteten Geburt nicht sofort medizinisch versorgt worden ist, sondern erst neun Stunden später, da er ja gar nicht überleben sollte. Es erzählt aber auch die Geschichte einer Liebe, die sich auf den ersten Blick in Tims große blaue Augen in die Herzen der Guidos schlich und seine Pflegeeltern nicht mehr losließ.

Im Buch kommen viele Menschen in Tims Umkreis zu Wort: seine Pflegeeltern und deren leibliche Söhne, Verwandte, Freunde, Bekannte, Nachbarn, Ärzte und Pfleger. Alle äußern sich ehrlich,manchmal durchaus auch kritisch, zur gegebenen Situation und zu Tims erstaunlicher Entwicklung, aus ihrer persönlichen Sicht.
Bernhard und Simone Guido haben Tim so vieles gegeben. Sie haben ihm quasi ein neues Leben geschenkt, indem sie ihm all das gaben, was ein kleines Kind braucht: ein Heim, eine Familie, Fürsorge, Liebe und Geborgenheit. Dies war sicher nicht immer leicht, denn Tim braucht mehr von all dem als andere Menschen. Aber trotz aller Probleme und obwohl er schon oft in Lebensgefahr schwebte und viele Operationen über sich ergehen lassen musste, ist er auf seine Weise sehr stark, mit enormer Energie und einem großen Lebenswillen. Auch die Guidos sind willensstark und verfolgen unbeirrt ihren Weg. Sie wissen genau, was sie wollen, und mit der Aufnahme von mittlerweile drei behinderten Pflegekindern haben sie ihren Traum erfüllt und ihre persönlichen Vorstellungen vom Leben umgesetzt. Nur so konnten sie kritischen Stimmen, Vorwürfen und Missbilligung von außen Stand halten.

An Tims Beispiel erfährt man viel über geltende Regelungen in Deutschland, wie in einem solchen Fall verfahren wird, und man muss feststellen, dass die fortschrittliche Medizin zwar körperliche und geistige Schäden heutzutage sehr oft bereits pränatal feststellen kann, aber eben nie das wirkliche Ausmaß. Mit der Diagnose, wie sie auch immer aussehen mag, werden die jungen Eltern oft allein gelassen; es fehlt die so wichtige Betreuung und Beratung. Nicht nur werdende Eltern, auch die Ärzte sind überfordert, wenn die Diagnose auf eine Behinderung des Fötus schließen lässt. Die Umwelt reagiert nicht selten mit Unverständnis und kennt nur eine Lösung: die Abtreibung. Dass diese in vielen Fällen eigentlich keine mehr ist, sondern dass das ungewollte Kind auf natürlichem Weg geboren werden muss, wissen viele nicht, denn dies wäre sicher ein Aspekt, der so manchen rigorosen Befürworter der Abtreibung zum Nachdenken bringen könnte.
Je mehr man in diesem Buch über Tim und seine Familie erfährt, über die Lebensfreude, die der junge Mann empfindet und die Zuneigung, die er nahe stehenden Menschen entgegenbringt, umso stärker frage ich mich, woher wir uns heutzutage das Recht nehmen, über Sein oder Nichtsein eines Ungeborenen zu entscheiden. Wie können wir uns anmaßen, einem Kind das Lebensrecht zu verweigern, nur weil es nicht der Norm entspricht?
Es gibt sicher Fälle, wo es nicht anders geht, wenn so schwere körperliche und geistige Behinderungen beim Kind offensichtlich sind, dass sein künftiges Leben nur ein Dahinvegetieren wäre. Aber die moderne Pränatal-Diagnostik macht es möglich,
eben auch weniger ausgeprägte Behinderungen festzustellen und in absehbarer Zeit wird es kaum noch Kinder mit Downsyndrom geben, da sich die meisten Eltern entschließen, dieses Kind nicht zu bekommen. Wenn man sich einmal näher mit Menschen beschäftigt, die das Downsyndrom haben, stellt man fest, welch ein Verlust es für die Welt wäre, wenn es diese lebensfrohen und warmherzigen Menschen nicht gäbe.

Das Buch hat mich sehr nachdenklich gemacht, hier geht es nicht nur um das Schicksal eines einzelnen Jungen, sondern um viel mehr, nämlich um existentielle Fragen, um die Würde des Menschen und um das Recht auf Leben. Wo soll die Grenze gezogen werden? Was ist zumutbar, was dagegen untragbar? Ist die Entscheidung, einen Fötus mit Diagnose Down Syndrom abzutreiben, nicht ein inakzeptabler Eingriff in die Schöpfung? Jeder Mensch empfindet dies anders, aber Tims Geschichte zeigt, welche ungeheure Kraft in diesem Jungen steckte, denn allen Erwartungen zum Trotz hörte er nach seiner Geburt einfach nicht auf zu atmen. Trotz beträchtlicher körperlicher Einschränkungen, die eigentlich nicht hätten sein müssen, lebt er, und wie er lebt! Ihm und seiner sympathischen Pflegefamilie gehört meine ganze Hochachtung.
Dies ist ein Buch, das man einfach gelesen haben sollte, denn es liefert jede Menge interessanter Informationen und Fakten, ohne in irgend einer weise zu verurteilen, es gibt viele Denkanstöße, und es bereichert und erweitert den Horizont, indem es eine Lebenssituation zeigt, die von der gesellschaftlichen Norm abweicht und doch auf jeden Fall lebenswert ist.



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