Klappentext:
Rothenburg
ob der Tauber, um 1540. Maria wächst als Henkerstochter in einer
schäbigen Gasse heran. Dem Mädchen ist der Beruf des Vaters eine
fremde Welt. Nur zu deutlich spürt sie, dass sie gemieden wird -
gelten Henker und ihre Familien doch als "Unehrliche", mit
denen man nicht in Berührung kommen soll. Als sie alt genug ist,
nimmt ihr Vater sie zum ersten Mal zu einer Hinrichtung mit. Danach
schwört sie sich, die Henkerswelt für immer hinter sich zu lassen,
sobald sie erwachsen ist. Aber ihre Eltern haben andere Pläne: Sie
soll den Sohn und baldigen Nachfolger des Freiburger Henkers
heiraten. Bleibt ihr nur die Flucht?
Mein
Eindruck:
Dies
ist ein Entwicklungsroman, in dem es hauptsächlich um Marie Vollmer,
die Tochter des Rothenburger Henkers Hans Vollmer, geht.
Das
Buch ist in drei große Abschnitte gegliedert. Sie sind mit
„Kindheit“,
„Lehrjahre und „Zeit der Reife“ überschrieben. So begleitet
man Maries Leben, von ihrem fünften Lebensjahr an über dreizehn
Jahre, bis ins junge Erwachsenenalter.
Einen
derart intensiven Eindruck vom Leben einer Henkersfamilie hat mir
bisher noch kein anderes Buch vermittelt. Astrid Fritz hat sich hier
einem faszinierenden historischen Thema gewidmet. In den meisten
Romanen, die ich bisher gelesen habe, geht es mehr um die Opfer, die
vom Henker gefoltert oder gerichtet werden; der Scharfrichter selbst
spielt eine düstere Rolle und übt sein Amt eher anonym aus. Über
sein Leben außerhalb der Mauern von Gefängnis und Folterkeller
erfährt man so gut wie nichts.
Das
macht diesen Roman so interessant, denn hier lernt man den Henker als
Menschen kennen. Man erlebt ihn im Kreis seiner Familie, und im Fall
von Maries Vater ist er ein warmherziger, einfühlsamer und
gutmütiger Mensch. Das war für mich eigentlich kaum vorstellbar,
diese Wesenszüge mit einem derart grausamen Beruf zu vereinbaren.
Astrid
Fritz vermittelt in ihrem Roman ein sehr eindrucksvolles Bild des
Henkers und seiner Familie. Man erfährt viel über den Alltag von
Frau und Kindern, die es in der damaligen Gesellschaft nicht
unbedingt leicht hatten, denn sie wurden meist geächtet. Ihre
Wohnstätte lag in abgelegenen Vierteln der jeweiligen Stadt, wo alle
„Unehrlichen“ lebten.
Wenn
man erfährt, wie es Marie und ihren Geschwistern in der Schule
erging, dass sie auch dort von ihren Mitschülern geschnitten und
geächtet wurden, nur weil der Vater den Beruf des Henkers inne
hatte, dann kann man sich gut vorstellen, wie schwer das für manche
„Henkerskinder“ war. Am Beispiel von Marie und ihren beiden
Brüdern sieht man auch, wie unterschiedlich und individuell die
Kinder ihre Lebenssituation betrachteten und verarbeiteten. Während
Marie und ihr jüngerer Bruder unter der Situation leiden und kaum
ertragen können, welcher Tätigkeit ihr Vater nachgeht, so ist der
ältere Bruder eher kaltschnäuzig. In interessiert, was ein Henker
alles erledigen muss, und er würde lieber heute als morgen in die
Fußstapfen seines Vaters treten.
Wie
es dazu kam, dass ihre Mutter, eine Tochter aus gutem Hause, den
Henker geheiratet hat, das fragt sich Marie immer häufiger, je
älter sie wird, denn im Lauf der Jahre kommt sie ins Grübeln. Hier
weiß der Leser von Anfang an mehr als Marie, denn die Vorgeschichte
wird bereits im Prolog erzählt. Marie möchte die Tradition auf
keinen Fall fortsetzen, indem sie wieder in eine Henkersfamilie
einheiratet, was damals üblich war.
Man
kann sagen, die Autorin ist im 16. Jahrhundert, über das sie in
einigen Romanen schreibt, quasi zuhause. Alles ist bis ins Detail
ausführlich recherchiert, und Maries Geschichte ist sprachlich sehr
authentisch dargestellt. In vielen ihrer Romane spielt sich die
Handlung im Freiburger Raum ab, was sicher daran liegt, dass Astrid
Fritz selbst lange Zeit in Freiburg gelebt hat und ihr diese Gegend
besonders vertraut ist. Auch ist die historische Recherche, gerade
was das Thema „Henker“ angeht, in diesem Raum sicher besonders
ergiebig denn Freiburg kann auf viele Jahrhunderte Stadtgeschichte
zurückblicken.
„Henkersmarie“
ist ein sehr eindrucksvoller historischer Roman, der dem Leser einen
ausführlichen Blick hinter die Kulissen gewährt und zeigt, dass ein
Henker oft auch ein liebevoller und treu sorgender Familienvater war,
der nicht zuletzt selbst unter seiner Arbeit litt. Mir hat der Roman
nicht nur unterhaltsame Stunden bereitet, sondern mich auch
nachhaltig beeindruckt und meinen Blickwinkel auf diese verrufene
Berufsgattung ziemlich verändert.
Ein
absolut lesenswertes Buch!
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