Zum 85. Geburtstag ihres Großvaters Arjen reist Greta nach
Norddeutschland, zu ihrer Familie. In der Schweiz, wo sie einige Jahre gelebt
und gearbeitet hat, ist gerade ihre Beziehung zu Erik in die Brüche gegangen. Aus
der Not heraus, weil sie in der Eile ihres überstürzten Aufbruchs kein
passendes Geburtstagsgeschenk mitgebracht hat,
schenkt sie Arjen gemeinsame Zeit, was dieser mit großer Freude annimmt.
Er wünscht sich, zusammen mit seiner Enkeltochter, eine Reise an die Nordsee zu
unternehmen, möchte die Orte seiner Kindheit und Jugend aufsuchen. Greta spürt,
dass dieser Wunsch nicht von ungefähr kommt, sondern dass es für Arjen noch
etwas Wichtiges gibt, das er zum Ende seiner Tage aufarbeiten und loswerden
möchte.
Es hat ein wenig gedauert, bis ich mich dazu entschlossen
habe, Tanja Heitmanns erste Familiensaga zu lesen, denn mit ihren
Fantasy-Romanen bin ich nicht so recht warm geworden, was sicher daran liegt,
dass ich mit Fantasy häufig nicht so gut zurechtkomme. Aber ich habe es nicht
bereut, mich für dieses Buch entschieden zu haben. Der Genrewechsel ist der
Autorin absolut geglückt.
Es gibt im Buch zwei Handlungsstränge, wobei man Arjen in
gewisser Weise als Mittler zwischen den Zeiten sehen kann. In der Vergangenheit,
während des Naziregimes, erlebt man ihn als Kind und jungen Mann, der lange
Zeit im Schatten seines strengen Vaters stand, bis er Ruben kennenlernte. Die
Jungen wurden dicke Freunde, und bald teilte Arjen ein besonderes Geheimnis mit
dem charismatischen Vagabunden. Dieser besaß einen alten Walfischknochen, mit
dem er Schicksalhaftes verband. Das Knochenstück wird im Lauf der Geschichte immer
mehr zu einem Symbol der Verbundenheit. Die Begegnung mit Ruben hinterlässt
Spuren in Arjens Gedächtnis und an seiner Seele.
Während sie den Erzählungen ihres Großvaters lauscht, spürt
Greta die Last einer alten Schuld, die Arjen mit sich herumträgt. Gemeinsam mit
ihm versucht sie, die unheilvollen Ereignisse
von damals aufzuarbeiten und zu verstehen.
Während ihres gegenwärtigen Aufenthalts auf Beekensiel
erhält Greta Hilfe bei ihren Recherchen. Mattes Ennenhof, der die Insel wie
seine Westentasche kennt, führt sie an die Schauplätze, wo damals, in diesem
ganz besonderen Sommer, die Treffen zwischen Arjen und Ruben stattgefunden
haben. Er zeigt ihr die alten Orte, an denen ihr Großvater gelebt, geliebt und
gelitten hat. Als Greta das alte Reetdachhaus besucht, in dem ihr Großvater
aufgewachsen ist, spürt sie sofort eine starke Verbindung und hat das Gefühl,
angekommen zu sein.
Trotz einiger anfänglicher Meinungsverschiedenheiten fühlt
sich Greta in Mattes’ Gegenwart wohl. Ihre zerbrochene Beziehung mit Erik wird
immer belangloser und gerät mehr und mehr in den Hintergrund, je länger sie auf
Beekensiel weilt.
Das Flair der fiktiven Insel wirkt sehr authentisch und
beinhaltet viele reale Details.
Ich habe mich in der Atmosphäre Beekensiels und des Hotels
Sturmwind wohl gefühlt, und Greta ist mir im Lauf der Handlung immer
sympathischer geworden. Auch wenn sie manchmal ein wenig unbeholfen wirkte, besonders
was das Autofahren betrifft, so hat sie doch Verstand und ganz besonders das
Herz auf dem rechten Fleck. Ich fand es rührend, wie achtsam und klug sie mit
dem Großvater umgeht. Im Vergleich zu den anderen Frauen der Familie, die Arjen
mit ihrer übertriebenen Fürsorge fast ersticken, ist sie die Feinfühligere und Vernünftigere,
denn sie lässt Arjen seine Würde.
Es ist ein Buch, das perfekt in den Herbst passt, denn über
der ganzen Geschichte liegt ein Hauch Wehmut. Das manchmal wilde und ungestüme
Wetter auf Beekensiel tut sein Übriges. Der Roman handelt von Liebe und
Freundschaft, aber auch vom
Abschiednehmen, von Verlusten und Trauer.
Beide Handlungsstränge, sowohl in der Vergangenheit als auch
in der Gegenwart, konnten mich fesseln. Der Schreibstil hat mich bezaubert. Es gibt
kaum große, spektakuläre Ereignisse, sondern die Handlung wird eher durch die
leisen Töne bestimmt, ist ruhig, nachdenklich und verhalten. Ich liebe diese
Art Familiengeschichten, besonders wenn sie so gut und einfühlsam erzählt sind,
wie diese.
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