Die Rahmenhandlung dieses Romans spielt
im Jahr 1971. Lieselottes Leben gleicht einem alten, abgetragenen
Kleidungsstück. Es ist langweilig und farblos geworden. Mit ihrem
Ehemann hat sie eigentlich nichts gemeinsam. Sie und Eduard leben
mehr oder weniger desinteressiert nebeneinander her. Manchmal fragt
sich Lieselotte, wie es so kommen konnte und ob sie ihren Mann
eigentlich einmal wirklich geliebt hat. Immer häufiger hört oder
liest sie, dass andere Frauen für ihre Rechte auf die Straße gehen
und demonstrieren. Sie selbst hat nicht den Mut dazu.
Als Lieselotte einen Anruf erhält,
dass ihre Mutter einen schweren Unfall hatte und im Koma liegt, ist
sie völlig aufgelöst und fährt am nächsten Tag mit der Bahn nach
Frankfurt. Ihr Mann bleibt in Kassel zurück. Ihm scheint die ganze
Angelegenheit gleichgültig zu sein.
In Frankfurt wohnt Lieselotte in der
Wohnung ihrer Mutter Amelie. Dabei lernt sie sehr bald die Nachbarin
kennen, Marga, eine junge Stundentin, die mit ihrem Kater „Cat
Balou“ gleich nebenan wohnt und mit der sich Lieselotte schnell
anfreundet. Bei Marga findet sie Verständnis, und sie hofft, von ihr
mehr über Amelie zu erfahren. Das Verhältnis zwischen Mutter und
Tochter war immer distanziert, und für Lieselotte ist es kaum
vorstellbar, dass die stets so starke Amelie nun hilflos und ohne
Bewusstsein im Krankenhaus liegt. Als Lieselotte ein altes Foto
entdeckt, hofft sie, mehr über die Vergangenheit und über das
Schicksal ihres Vaters zu erfahren, worüber ihre Mutter nie
gesprochen hat. Ihre Recherchen, die sie mit Margas Hilfe unternimmt,
führen sie 36 Jahre zurück, und die Erkenntnisse, die sie über
diese Zeit gewinnt, versetzen sie in Erstaunen. Nie hätte sie hinter
Amelies kühler Art diese Lebensfreude und Leidenschaft zur Fliegerei
erwartet, von der sie nun erfährt.
In diesen Rückblicken ins Jahr 1935
lernt man eine völlig andere Amelie kennen, eine junge Frau mit
Träumen und Lebensplänen. Sie und ihre beste Freundin Hanni
möchten Pilotinnen werden, was zur damaligen Zeit, unter dem
Naziregime, nicht gerade einfach zu erreichen war. Aber die
Freundinnen haben feste Vorsätze, die sie sich von niemandem
zerstören lassen wollen. Als Amelie sich in Hannas Fluglehrer
verliebt, gerät die Freundschaft der beiden jungen Frauen in eine
Krise, die alle Beteiligten auf eine Tragödie zusteuern lässt.
In die Rahmengeschichte, die in den
frühen 70er Jahren spielt, konnte ich geistig sofort eintauchen. Die
Atmosphäre und den Zeitgeist von damals hat die Autorin wunderbar
treffend dargestellt. Ich selbst habe das Jahr 1971 als Teenager
erlebt und mich beim Lesen direkt wieder in diese Zeit zurück
versetzt gefühlt, so gut und farbig ist sie beschrieben. An die
erwähnten Musikstücke habe ich noch lebhafte Erinnerungen, und auch
die Themen rund um die Frauenbewegung haben mich damals bereits
beschäftigt. Wie stark beschränkt die Rechte einer Ehefrau damals
noch waren, das wusste ich jedoch bisher nicht und habe es erst jetzt
durch diesen Roman erfahren. Lieselottes Wandlung im Verlauf der
Geschichte hat mir sehr gefallen, denn die Protagonistin steht für
viele Frauen ihrer Zeit. Es musste erst einiges geschehen, sie aus
ihrem Alltagstrott zu reißen und wachzurütteln.
Richtig dramatisch wird es jedoch in
der Vergangenheit. Hier hat die Autorin einige äußerst brisante
Themen verarbeitet. Die Fliegerei in der Geschichte ist ein
faszinierendes Thema, das hier im Roman vielschichtig und mit all
seinen Problemen dargestellt ist. Weibliche Berufsflieger entsprachen
so gar nicht dem nationalsozialistischen Idealen, sondern wurden wohl
eher als Exoten angesehen. Das Regime sah für Frauen eher ein
gemütliches Heim, Mann und Kinder vor.
So gesehen kann ich mir schon
vorstellen, dass Hanna den Weg zu ihrem Lebenstraum nicht in dieser
Männerdomäne alleine gehen wollte. Erschütternd ist jedoch die Art
und Weise ihres Vorgehens und die Erkenntnis, wie schnell
freundschaftliche Verbundenheit und Zuneigung in besitzergreifende
Eifersucht und sogar in Hass umschlagen kann.
Eigentlich nicht neu für mich, aber
doch immer wieder bestürzend ist die Tatsache, wie wenig die
Menschen zur Hitlerzeit über ihr eigenes Leben bestimmen konnten,
wie stark sie unter Beobachtung standen, nicht nur Angehörige von
„Randgruppen“ der Gesellschaft, sondern ganz normale Bürger. Es
war eine Zeit, in der es schon gefährlich war, jemanden zu kennen,
der dem Regime ein Dorn im Auge war, in dem schon ein einziges Wort
todbringend sein konnte.
Dies ist ein vielschichtiger Roman,
denn er beleuchtet nicht nur zwei interessante Zeitabschnitte des 20.
Jahrhunderts, sondern greift viele besondere Themen auf. Hier erfährt
man über ein schwieriges Mutter-Tochter-Verhältnis, das von der
Vergangenheit belastet ist, und man erlebt eine junge Frau, die hin
und her gerissen ist, zwischen der besten Freundin, ihrem
Zukunftstraum und der Liebe ihres Lebens und wie sie an dieser
Zerrissenheit fast zerbricht.
Somit bietet dieser Roman nicht nur
beste, hochwertige Unterhaltung, sondern daneben auch viel
Gesprächsstoff und Themen, über die man noch lange nachdenkt. Da es
bei beiden Handlungssträngen sehr stark um die Frauenbewegung geht,
denn auch die mutigen Fliegerinnen aus den 20er und 30er Jahren sind
bereits Vorreiter der Emanzipation gewesen, passt dieses Buch für
mich besonders gut in den März, den Monat, in dem auch alljährlich
der Weltfrauentag begangen wird.
👍👍👍👍👍
Heute, am 20.09.2021, ist der Roman in einer neuen, überarbeiteten Auflage erschienen. Ich verlinke euch im Anschluss zur neuen Ausgabe.
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