Bei dem Pogrom im Jahr 1519 in
Regensburg verliert die junge Jüdin Alisha nicht nur ihre gesamte
Familie, sondern durch die dramatischen Erlebnisse auch ihre Stimme.
Mit dem Medizinkoffer ihres Vaters geht die junge Frau nach
Frankfurt und betätigt sich dort als Heilerin und Assistentin eines
Arztes. Da sie nicht sprechen kann, fällt es ihr schwer, sich bei
ihren Mitmenschen verständlich zu machen. Ihr größter Wunsch ist,
in die Fußstapfen des Vaters zu treten und Ärztin zu werden. Aber
das war zur damaligen Zeit schier unmöglich.
Die Rahmengeschichte zu diesem Roman,
der von einem sehr berührenden Frauenschicksal des 16. Jahrhunderts
handelt, spielt in der Gegenwart in Regensburg. Gideon Morgenstern
findet im Vermächtnis seines verstorbenen Großvaters einen alten
Koffer, in dem sich zahlreiche Relikte aus der Vergangenheit
befinden. Neben Fotografien und alten Briefen enthält dieser Koffer
auch ein Hochzeitsgewand und einen uralten Holzkoffer. Wie sich
herausstellt, war das der Arztkoffer Daniel Friedmanns, Alishas
Vater, der damals, vor vielen hundert Jahren bei dem Pogrom ermordet
wurde. Gideon, der bisher kaum etwas mit dem Glauben seiner Vorfahren
zu tun haben wollte, entdeckt auch alte Tagebücher, die er jedoch
nicht lesen kann, da sie in Hebräisch verfasst sind. Mit Hilfe der
Studentin Paula gelingt es ihm, die alten Schriften zu übersetzen,
und die beiden jungen Leute erleben eine Überraschung, ist dies doch
ein aufrüttelndes Zeitzeugnis, von Gideons Vorfahrin Alisha
eigenhändig verfasst.
Je länger sich Gideon mit der
Vergangenheit und den alten Tagebüchern beschäftigt und je mehr er
über die damaligen Geschehnisse und über Alisha erfährt, umso
stärker wird seine Faszination. Alishas Schicksal berührt ihn sehr,
und er sieht sich selbst, sein Leben, seine Familie und die Religion
seiner Vorfahren plötzlich aus einem ganz neuen Blickwinkel.
Nicht nur Gideon und Paula nehmen
intensiven Anteil am Schicksal der schönen Alisha, auch ich, als
Leserin dieses Romans, war von der ersten Seite an gefesselt und
berührt. Die beiden Handlungsstränge, einmal die Vergangenheit mit
Alisha und dazwischen die Gegenwart mit Gideon und Paula, laufen
parallel nebeneinander her. Obwohl ich völlig in der Geschichte
versinken konnte, fand ich die Wechsel zwischen den Zeiten nicht
lästig. Ich habe sie nicht als Unterbrechungen wahrgenommen, sondern
als Brücken, die Gideons Familiengeschichte aus Vergangenheit und
Gegenwart verbinden.
Der Handlungsstrang über die
Vergangenheit ist natürlich ungleich dramatischer als die Ereignisse
der Gegenwart, denn was dem jüdischen Volk damals widerfahren ist,
lässt sich aus humaner Sicht kaum begreifen. Zwar ist Alisha ein
fiktiver Charakter, aber die historischen Ereignisse, die diesem
Roman zugrunde liegen, sind leider nur allzu wahr. Im Anhang sind
auch zahlreiche reale historische Personen verzeichnet, die im
Verlauf der Geschichte Erwähnung finden. Die historische Handlung
mit all ihren wahren Hintergründen ist meines Erachtens sehr
ausführlich und gut recherchiert. Man erhält intensive Einblicke in
das Leben einer jüdischen Gemeinde und erfährt sehr viel
Wissenswertes über jüdische Bräuche, Regeln und Feiertage. Die
vielen Erklärungen im Glossar, zu speziellen Bezeichnungen und
Redewendungen, sorgen für ein gutes Verständnis.
Die Rahmenhandlung mit Gideon und Paula
rundet diesen eindrucksvollen und bewegenden Roman sehr schön ab,
denn Gideon macht eine starke und faszinierende Veränderung durch,
die ihren Auslöser in dem alten Koffer und in Alishas Tagebüchern
hat. Bei Gideon, dem momentan jüngsten Nachfahren der Familie
Morgenstern, schließt sich der Kreis, und es ist nun an ihm, das
uralte Vermächtnis zu bewahren und vielleicht eines Tages
weiterzugeben. Für mich gehört dieses Buch zu den „nachhaltigen“
Romanen, die mich noch lange nach dem Lesen beschäftigen und mir
intensiv in Erinnerung bleiben.
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