Freitag, 7. Oktober 2011

Im Schatten des Vogels - Kristín Steinsdóttir

Pálina Jónsdóttirs Geschichte ist weitgehend in der Ich-Form erzählt. Geschildert werden die Träume und Erfahrungen einer heranwachsenden jungen Frau, die Ende des 19. Jahrhunderts am Fuße eines Gletschers in Island lebt, inmitten der wilden Landschaft, umgeben von ihrer großen Familie.
Auf 252 Seiten wird fast ihr ganzes Leben abgehandelt, was unweigerlich zu großen Zeitsprüngen führt, die jedoch den Fluss der Geschichte nicht stören.
Pálina verbringt ihre Kindheit, umgeben von Eltern und Geschwistern, dem Gesinde und den Tieren, die zum Hof gehören. Besonders den Vater liebt sie von ganzem Herzen, aber im Lauf der Zeit merkt sie, dass er auch eine andere Seite hat, die sie so gar nicht verstehen kann und mag. Als sie älter wird, stellt sie fest, dass sie mehr Geschwister hat, als ihr bisher bewusst war, denn ihr Vater ist ein wahrer Frauenheld. Seine Eskapaden sind weithin im Umkreis bekannt und liefern den Nachbarn viel Stoff für Klatsch und Tratsch. Die Mutter leidet sehr darunter und zerbricht fast daran. Pálina und ihre Geschwister bekommen viel Ablehnung von außerhalb zu spüren, und diese Erfahrungen bringen ihre heile Welt sehr bald ins Wanken.
Der Vater ist nebenbei auch Gemeindevorsteher und versteht sich auf das Heilen mit homöopathischen Mitteln. Darum kommen oft Fremde auf den Hof, um sich von ihm behandeln zu lassen; einige bleiben für längere Zeit. Zu den Patienten gehört auch Sveinn, der an der Schwindsucht leidet und sich hier Heilung erhofft. Er ist ein sensibler junger Mann, und Pálina erlebt mit ihm die erste große Liebe. Aber der Vater stellt sich gegen diese Verbindung und schickt sie, zusammen mit ihrer Schwester, nach Reykavik auf eine Mädchenschule. Pálina leidet sehr unter ihrem Heimweh und unter gebrochenem Herzen. Zu diesem Zeitpunkt macht sich ihre Krankheit erstmals deutlicher bemerkbar. Sie spricht davon, als wäre ein Vogel in ihrem Inneren, der von Zeit zu Zeit aufgeregt flattert, ihr aber auch manchmal die Luft raubt, wenn er in ihrem Hals steckt und nach draußen will. Aber es gibt auch Zeiten, da kann sie sich unter seinem Gefieder vor der Welt verstecken.
Eine Vernunftehe bringt der jungen Frau weder das große Glück noch genügend Zuneigung und Verständnis. Ihre Kinder liebt sie, kann ihnen aber nicht immer eine gute Mutter sein. Sie ist seelisch krank und in ihrer eigenen Welt gefangen. Eine Zeitlang findet sie Ruhe und Trost bei ihren Näharbeiten und dem geliebten Orgelspiel, aber auch das ist nicht von Dauer.

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Man muss sich einlassen, auf die Mystik des Landes und den damit verbundenen, tief verwurzelten Aberglauben der Menschen in Island vor hundert Jahren, deren Denken und Handeln sehr von geheimnisvollen Sagen und düsteren Geschichten über Elfen und Ungeheuer bestimmt wird. In diesem Umfeld wächst Pálina auf. Das Verhältnis zum Vater ist zwiespältig, denn einerseits liebt sie ihn und hängt sehr an ihm (er nennt sie liebevoll „Engelchen“), aber sie muss erfahren, dass er nicht unfehlbar ist, sondern ein sehr dominanter Mensch, mit vielen Schwächen und einer großen Portion Egoismus, und sie verurteilt vieles, was er sagt oder tut.
Ihre Lebensumstände und einige Erfahrungen tragen sicher dazu bei, dass sich Pálina immer mehr in ihre Ängste und Befürchtungen verstrickt. Langsam erwacht die Krankheit, welche ihre Seele befällt und wohl schon länger in ihr schlummert. Dass sie von einem Vogel spricht, der ihr die Luft zum Atmen raubt, lässt sich vermutlich auf die enge Bindung der Isländer an die wilde Natur und ihre Geheimnisse zurückführen und ist Pálinas persönliche Art, ihre Seelenqualen in Worte zu fassen. Wie die Landschaft Islands, von karger Schönheit, so wirkt auch der Schreibstil dieses Romans. Die klare, einfache und doch poetische Sprache ist von vielen Auslassungen geprägt, besonders fällt der häufige Verzicht auf Pronomen ins Auge. Pálinas Schilderungen wirken wie Tagebucheinträge. Gerade in ihrer Schlichtheit sind sie sehr eindrucksvoll und bewegend.
Im letzten Drittel des Buches werden manche Kapitel aus der Sichtweise von Pálinas ältester Tochter Kathrin erzählt. Hier erinnert der Schreibstil an ein Selbstgespräch. Der permanente Versuch der Kinder, die Normalität im Alltag aufrecht zu erhalten und aus Liebe stets Verständnis für die Handlungen der kranken Mutter aufzubringen, hat etwas sehr Rührendes. Der Roman hat mich sehr nachdenklich gemacht, zeigt er doch, wie hilflos damals die Menschen einer Geisteskrankheit gegenüberstanden.
Kristín Steinsdóttir hat mit diesem, zum Teil autobiographischen Roman, ihrer Großmutter ein eindrucksvolles und sehr berührendes Denkmal gesetzt
.

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"Im Schatten des Vogels" habe ich im Zuge der Island-Aktion bei Blogg-dein-Buch gelesen. Es ist bei C.H.Beck erschienen und u.a. auch hier zu beziehen.
Herzlichen Dank an Blogg-dein-Buch und den Verlag für das Rezensionsexemplar.

2 Kommentare:

  1. Als ich den Klappentext gelesen hatte, war ich schon sehr angetan. Und so landete das Buch auf meine Liste. Danke für deine informative Rezension.

    Man kommt mit dem Buchkauf nicht mehr nach. Mann oh mann, so schnell kann man gar nicht gegen an verdienen.

    Ich wünsche dir ein schönes Wochenende. :)

    LG, Tanja

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  2. Danke liebe Tanja, dir wünsche ich auch ein schönes Wochenende. Tja, mit der Wunschliste ist das so ein Problem. Ein Buch wird angeschafft und vom Wunschzettel gestrichen, aber es kommen gleich wieder drei, vier oder mehr neue Notizen dazu ;-)
    Liebe Grüße
    Susanne

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